#1Tag1Text zu: Grant Wood ‚American Gothic‘, 1930

Grant Woods Sache war es nicht, über seine Arbeit und seine Arbeiten zu sprechen. Er war für seinen Humor bekannt, für seine Suche nach Vorbildern in der Kunstgeschichte, sein Gespür für Symbolik, seine Suche nach der Realität im Abbild. Und doch bleiben Fragen, deren Beantwortung es an Woods Zustimmung fehlen muss. ‚American Gothic‘ gilt als Ikone der amerikanischen Kunst, seine Wirkung in die Gesellschaft beginnt mit der ersten Ausstellung und reicht bis in die Gegenwart. Kaum ein anderes Werk ist in die popkulturelle Vereinnahmung geraten, wie dieses rätselhafte Gemälde, und das mag eben genau an dieser Rätselhaftigkeit liegen. Im Sommer 1930 reist Grant Wood durch Iowa, wo er lebt und arbeitet. In Eldon, einem Nest mit gerade einmal 1800 Einwohnern und einer Geschichte von sechzig Jahren, wird er auf ein Holzhaus aufmerksam, das, im Stil des Carpenter Gothic Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, wie aus der Zeit gefallen schien, und vielleicht gerade deshalb sein Interesse weckte. Es waren die Jahre der Großen Depression, Wirtschaft und Gesellschaft lagen danieder, und die Menschen in den Städten wie auf dem Land mussten um ihr Leben auch als Überleben kämpfen. Welche Menschen allerdings in diesem Haus lebten, wie sie lebten und was sie taten, um zu überleben, wusste Wood nicht. In seiner Vorstellung wurden es zwei Menschen, die, wie das Haus selbst, standhaft und doch aus der Zeit gefallen, undurchschaubar und doch Abbild von Gedanken und Gefühlen waren.

Grant_DeVolson_Wood_-_American_Gothic
Grant Wood American Gothic 1930

Seine Schwester und sein Zahnarzt wurden zu Modellen für diese beiden Personen unbekannter Verbindung zueinander, deren Sein und Tun die Architektur des Hauses in sich tragen. Wie zwei tragende Wände stehen sie, auf deren Köpfen das Dach des Hauses zu ruhen scheint. Und so wie alle aufstrebenden Linien in Statue, Harke, Hemd und Latzhose des Mannes sich in der Verkleidung der Hausfassade, in Äusserlichkeiten, der harten Schale, fortzusetzen scheinen, so scheinen sich die Ornamente und Kringel im Rock der Frau in der Gardine hinter dem Fenster, im weichen Stoff, im Inneren, der Seele des Hauses, hinter dem Fenster zu spiegeln. Und wie sie beide das Dach zu tragen scheinen, Seite an Seite, so scheint auch das Fenster dort in seiner Symmetrie diese tragende Funktion zu spiegeln. Härte und Durchhaltevermögen, Vertrauen und Hoffnung, Stärke und Willenskraft liegen in den Blicken der beiden Menschen, Abbilder einer rauen Zeit. Vielleicht. Grant Wood liess sie rätselhaft bleiben, erklärte die Symbolik nicht, und machte dieses Gemälde vielleicht gerade darum zu einer Ikone, die bis heute in aller Ernsthaftigkeit auch Humor verkraftet.