Andreas Gursky sagt über seine Arbeiten:
‚Meine Bilder sind immer von zwei Seiten komponiert. Sie sind aus extremer Nahsicht bis ins kleinste Detail lesbar. Aus der Distanz werden sie zu Megazeichen.‘
Am liebsten wäre ihm sicherlich der Blick des Außerirdischen auf sein Werk, also der Blick für die großen Themen, die ihn umtreiben aus einer Perspektive, die den Überblick hat, die Megazeichen und Phänomene erkennt und den Menschen an seinen Platz weist: klein, bald unsichtbar, ein Gestalter mit zu viel Macht.
Eines der ersten Bilder, das ich von Gursky wahrgenommen habe, ist ‚Paris, Montparnasse‘ von 1993. Und für mich steht dieses Bild bis heute exemplarisch für die Weltsicht von Andreas Gursky und dafür, wie er seine fotografischen, das heisst auch und vor allem technischen Möglichkeiten nutzt, um sie zu vermitteln. Was wir sehen, ist eine riesiger Wohnblock, hunderte Fenster starren uns an, unten ein Streifen Grün, über dem Gebäude ein Streifen grauer Himmel. Alles eine Ebene, alles ohne Fluchtpunkt, kein Vordergrund, kein Hintergrund. Extreme Nähe und extreme Entfernung in einem Bild. Jedes Fenster ein Leben, eine Geschichte, Individuum und absolute Anonymität. Jedes Detail ist gleichwertig und dabei erschreckend wertlos.
Für mich steht das Bild in einer Reihe mit ‚99 Cent‘, ‚Prada‘, ‚Nike‘ oder: ‚Amazon‘, seiner aktuellsten Arbeit, gerade erstmalig zu sehen in der grandiosen Ausstellung ‚Andreas Gursky – nicht abstrakt‘ im K20 der Kunstsammlung NRW.
Dieses Bild bewegt, weil es aus den möglichen Perspektiven der Nähe und Entfernung den Betrachter mit den Spielregeln des eigenen Lebens konfrontiert. Was wir sehen sind die Konsumgüter im Lager von Amazon in Phoenix. Gursky hatte einen Tag Zeit, den Tag der Inventur, um dieses Foto zu machen. Einen Tag für den akribischen Arbeiter, den genauen Beobachter. An diesem einen Tag stand die Distributionswelt in diesem Lager still. Sein Foto ist also nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern auch eine Momentaufnahme aus dem Motorraum der Verfügbarkeitsmaschine.
Wir stehen vor dieser Fotografie und erkennen all die Produkte, suchen nach bestimmten, sind amüsiert einerseits, irritiert andererseits. Wie in all seinen Bildern, fällt auch hier die unglaubliche Tiefenschärfe auf. Kein Detail ist wichtiger, vordergründiger als das andere und in der Gleichberechtigung fällt jedem seine Bedeutung als elementarem Bestandteil eines über es selbst hinausgehenden Narrativs zu.
Zumal in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Motiven ist ’nicht abstrakt‘ eine herausfordernde Ausstellung. Einerseits für den Künstler, aber auch – glücklicherweise – für die Besucher. Auf einige der Herausforderungen möchte ich gerne eingehen.
1. Der Titel
Im Begleitheft äußert sich Gursky zum Titel der Ausstellung:
‚Meine Fotos sind nicht abstrakt. In letzter Instanz sind sie immer identifizierbar. Die Fotografie kann sich nicht vom Gegenstand lösen (…). Kunsthistorisch betrachtet bedeutet die Abstraktion eine Entfernung vom Gegenstand.‘
Hier klingt schon das Einerseits/Anderseits mit, das den Blick auf die Bilder kennzeichnet, und offensichtlich auch den Künstler selbst in seiner Herangehensweise an den, beziehungsweise eben der Entfernung vom Gegenstand beschreibt.
Ein Blick von Nahem und wir erkennen Blumen, fein säuberlich in Reih und Glied, auf einem riesigen Feld, und der Kennerblick erkennt vermutlich sogar die Art. Gurskys Interesse gilt allerdings ganz offensichtlich nicht den Blumen und in Wahrheit auch nicht ihrer farbigen Vielfalt um derer selbst willen. Aus der Entfernung (aufgenommen aus einem Helikopter) erschafft der Fotograf aus der Beobachtung des Konkreten ein Höchstmaß an Abstraktion. Indem auch wir als Betrachter uns vom Motiv entfernen wird augenscheinlich, was als Effekt gewünscht und inszeniert ist: Es geht einzig um Struktur, Farbe, Fläche.
Der Fotograf fordert den Betrachter auf, sich ebenso wie er selbst es in der Herstellung getan hat, vom Motiv zu entfernen, ‚nicht abstrakt‘ wieder zu ‚abstrakt‘ werden zu lassen. Der Titel fordert also im besten Sinne heraus.
Mit dem Mut der Überzeugung und dem Glauben an die Kraft der Motive jenseits der Details empfehle ich nicht zu viel Zeit mit diesen zu verbringen, sondern dem Bild, jedem Bild, Raum im Blickfeld zu geben.
2. Der Raum
Im sogenannten ‚Amerikanersaal‘ der Kunstsammlung erwarten den Besucher außerhalb von Sonderausstellungen die Meisterwerke der amerikanischen Nachkriegskunst des 20. Jahrhunderts, vertreten durch Künstler wie Andy Warhol, Robert Rauschenberg, Jackson Pollock, Ellsworth Kelly, u.a..
Die Entscheidung, diesen Raum nun für die Ausstellung exklusiv Andreas Gursky zu widmen, ist gleich in zweifacher Hinsicht die nächste Herausforderung.
Sie ist es zunächst an die Sehgewohnheiten des Publikums, das vielleicht ja mit einer bestimmten Erwartungshaltung in die Räume hier, insbesondere vielleicht in diesen, kommt. Bei der Eröffnung sind mir vor der Tür des Museums zwei Besucherinnen begegnet, die sich im Gespräch miteinander über die hervorragende Sammlung unterhielten, allerdings konstatierten: ‚wenn nur die Gurskys nicht wären…‘.
Noura Dirani, kuratorische Assistenz der Ausstellung, hat aber Recht, wenn sie sagt: Den Amerikanersaal von seinen Ikonen zu befreien bedeutet nicht, eine mutige Entscheidung zu treffen. Es bedeutet, Kunst in ihrer Entwicklung und Vielfalt Ernst zu nehmen und das Museum als Ort der Veränderung, nicht des Stillstands, wahrzunehmen.
Das nun ausgerechnet der Wahl-Düsseldorfer Gursky die Chance bekommt, diesen Raum in seiner ersten Ausstellung in der Kunstsammlung neu zu bespielen, demonstriert meiner Meinung nach das unbedingte Vertrauen in die Stärke seiner Arbeiten und ihren Bestand und Wert in der Kunstgeschichte.
Die zweite Herausforderung hat ebenfalls, jedoch eher indirekt, mit dem Raum zu tun. Hier, wo normalerweise Malerei hängt, nun also Fotografie. Die Bilder von Andreas Gursky können gar nicht anders, als sich im positiven Sinne auch an dem aufgeladenen Raum abzuarbeiten – oder besser gesagt: mit den abwesenden Werken zu kommunizieren. Eines der bedeutendsten Werke der Sammlung des Hauses ist sicher die Arbeit ‚Number 32‘ von Jackson Pollock, die eigentlich an einer der Wände dieses Raumes zu finden ist.
3. Die Malerei
In einer der Fotografien von Andreas Gursky (‚Ohne Titel VI‘) wiederum findet sich eine Arbeit von Jackson Pollock wieder, die große Ähnlichkeit zu ‚Number 32‘ aufweist. Im Amerikanersaal der Kunstsammlung fordert schon dieses Zitat zu einer Auseinandersetzung mit künstlerischen Ausdrucksformen heraus. ‚Ohne Titel VI‘ hängt allerdings – und glücklicherweise – nicht an der Wand, an der normalerweise der Pollock hängt, so dass der aufmerksame Besucher schon allein in dieser ‚Verschiebung‘ die selbstbewusste Eigenständigkeit der fotografischen Arbeiten erkennen mag.
Marion Ackermann fasst die Idee der Auseinandersetzung, der Konfrontation und des Miteinander von Malerei und Fotografie so zusammen:
‚Dadurch wird die Kunstsammlung selbst zur künstlerischen Wirkstätte von Andreas Gursky’.
Gurskys Fotografien stehen in jeglicher Hinsicht für sich. Doch gerade in diesem Raum – wie in der Auseinandersetzung mit Werken der Sammlung (dazu später mehr) – entfalten sie ihre Stärke auch aus den indirekten Bezügen auf Vorbilder in der Malerei wie Rothko oder Richter (siehe die ‚Tulpenbilder‘) oder in der direkten Einbindung wie eben in ‚Ohne Titel VI‘.
Noch augenscheinlicher wird die Bezugnahme auf die Malerei und darüber hinaus die Aufladung eines Motivs mit zusätzlicher Bedeutung in ‚Rückblick‘ (2015), das hier direkt neben ‚Ohne Titel VI‘ hängt.
Zu sehen sind die Rückansichten von vier Personen hinter einem Fenster. Der gewählte Ausschnitt ihrer Körper suggeriert den Charakter von Büsten. Von links nach rechts handelt es sich bei ihnen um Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Angela Merkel und Helmut Kohl. Ihr Blick ist auf das bildfüllende Gemälde ‚Vir Heroicus Sublimis‘ von Barnett Newman gerichtet. ‚Der Mensch, heldenhaft erhaben‘ ist nur eine der zahlreichen möglichen Übersetzungen des Titels. Allein hierzu kann man im direkten Bezug zum Bild lange Diskussionen führen. Im Falle der Abbildung, wie sie Gursky konstruiert – büstenhafte Rückansichten der bundesdeutschen Exekutive vor dem in einschüchternder Größe präsenten Gemälde – scheint mir ein direkter Bezug auf die politische und damit gesellschaftliche Verantwortung, die Einordnung des eigen Tuns vor dem Hintergrund (hier wörtlich und übertragen) der Macht des Volkes, gegeben. Gursky konfrontiert die vier ‚Büsten‘ wie die verbliebenen Abbilder der Macht mit der unfassbaren Größe und Stärke des Seins als fortwährender Konstante. Das ist faszinierend und tiefgründig, in der Wahl des Titels, in der Komposition, in der Auseinandersetzung mit dem philosophischen Diskurs über ‚Vir Heroicus Sublimis‘.
Für mich eines der stärksten Motive, auch im Hinblick auf die Unbedingtheit des Miteinander von Malerei und Fotografie. In dieser Fotografie ist alles konkret und doch extrem abstrakt.
4. Die Sammlung
Die Kunstsammlung NRW ist auch für mich die ‚heimliche Nationalgalerie‘. Die Künstlernamen und die Qualität der ausgestellten Werke sprechen eine klare Sprache: Braque, Matisse, Duchamp, Picasso, Léger, Kirchner, Kandinsky, Beckmann, Ernst, Margritte, Mondrian, Dubuffet, Bacon, Pollock, Stella, Rauschenberg, Twombly, Beuys, Knoebel, Wall, Ruff, Struth, Gursky….
Ihre Arbeiten lassen die Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhundert auch in der Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten lebendig werden. Im Vorwort zum Sammlungskatalog ‚Meisterwerke des 20. und 21. Jahrhunderts‘ definiert die scheidende Direktorin Marion Ackermann eine der wichtigsten Aufgaben der Sammlung:
‚Die Kunstsammlung soll als ein Ort verstanden werden, in dem sich ausdrücklicher als bisher Interaktionprozesse entwickeln, und zwar zwischen den Kunstwerken (…) und in Reaktion auf die architektonischen Räume‘.
Über die Auseinandersetzung Gurskys mit der Architektur als herausfordernden Prozess habe ich schon im Kapitel ‚Der Raum‘ geschrieben. In der Sammlung setzt sich dieser Prozess der Konfrontation im Dialog nun zwischen Malerei und Skulptur aus dem Bestand des Hauses und zahlreichen ausgewählten Bildern von Gursky fort.
In diesem Dialog verstärken sich auf beeindruckende Weise Altes und Neues und darüber hinaus lässt sich das Museum als Ort des Diskurses neu erfahren. Andreas Gursky hat für seine Version eines Gesprächs mit der Sammlung sowohl ältere als auch ganz neue Fotografien ausgewählt.
Eines seiner aktuellsten Werke, ‚Mediamarkt‘ (2016), wird zum inhaltlichen und realen Spiegelbild einer Neonlichtinstallation von Dan Flavin. Die bunte Warenwelt des Elektronikmarktes unter kühlem und rein funktionalem Neonlicht versus einer minimalistisch, künstlerischen Gestaltung mit eben diesem Licht.
Ausgerechnet neben ‚Die Begegnung‘ (1926) von René Magritte positioniert Gursky sein Bild ‚Lehmbruck II‘ (2014), das nicht nur den musealen Raum als Raum der Begegnung von Menschen thematisiert, sondern eben auch die Begegnung von Kunstwerken, hier Skulpturen, in einer ähnlich surrealistischen Manier konstruiert, wie die der Figuren in Magrittes Gemälde.
Noch ein Beispiel: Lionel Feiningers ‚Umpferstedt 1‘ (1914), die dekonstruierte Ansicht von Stadt und Landschaft in Flächen, Formen, Licht und Schatten findet eine bestechende Fortführung in Gurskys ‚Beijing‘ (2010), einer Innensicht auf die Streben- und Treppenhausstruktur des Olympiastadiums in Peking. Die unbedingte Tiefenschärfe lässt dabei die architektonischen Details in einer Fläche wie Feiningers Stadtansicht erscheinen.
Auch diese Herausforderung, der Dialog, ist überzeugend gemeistert, wie an zahlreichen weiteren Beispielen erkennbar ist.
5. zum Abschluss
In der Pressekonferenz vor der offiziellen Eröffnung der Ausstellung hat Gursky auch etwas zu seinem Verhältnis zum eigenen Werk offenbart. Manchmal dauere es Monate, bis sich Zufriedenheit mit einem Bild einstellt, bis er es wirklich annehmen kann. Mit ‚Amazon‘, gesteht Gursky, habe er bis heute diese Verbindung nicht in Gänze herstellen können. Sein Lieblingsbild sei derzeit das großartige ‚Les Mées‘ (2016).
Und ich verstehe ihn nur zu gut. Was für ein Bild!
In der Landschaft um die Gemeinde Les Mées im Süden Frankreichs prägt der größte Solarpark des Landes eine Fläche von 200 Hektar.
Auf Gurskys Aufnahme scheint es, als würden sich aus der Ferne die Solarpanels, die auf mich wie der digitale Hintergrund einer virtuellen Landschaft wirken, selbige erobern. Stück für Stück erobert reine Energie die Hügel und Täler. Fluch und Segen zugleich. Und wieder gibt es diese unbedingte Tiefenschärfe, Vordergrund, Mittelteil und Hintergrund sind eine Ebene und nehmen hier auch über dieses typische kompositorische Merkmal der Landschaft ihre Natürlichkeit, die ihr ja schon durch die Panels geraubt scheint. Un der Mensch, das Individuum? Fehlt auch hier vollkommen, scheint unwichtig, denn die Erzählung von Gursky geht auch ihr weit über das Individuelle hinaus und wird zum Megazeichen, am besten sichtbar aus größtmöglicher Ferne. Die letzte Herausforderung: in welcher Welt wollen wir leben und was wollen wir in ihr und für sie sein? Andreas Gurskys Bilder setzen Maßstäbe, in vielfacher Hinsicht.
Bedauerlicherweise gibt es zu dieser großartigen und unbedingt sehenswerten Ausstellung keinen Katalog, obwohl zahlreiche Werke hier erstmals zu sehen sind. Unverständlich.
Allerdings gibt es seit kurzer Zeit eine sehr gut gemachte Website, auf der Andreas Gursky seine Arbeiten im virtuellen Raum präsentiert. Als Ergänzung zur Ausstellung sicher einen Besuch wert!
‚Andreas Gursky – nicht abstrakt‘, bis zum 06.11.2016 im K20 der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf
dienstags bis freitags, 10.00 – 18.00 Uhr
samstags, sonntags, feiertags, 11.00 – 18.00 Uhr
montags geschlossen
KPMG-Kunstabend, jeden 1. Mittwoch im Monat
(Eintritt frei ab 18.00 Uhr), 10.00 – 22.00 Uhr
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